Die Waage der Wahrnehmung

 

Gerichtsreportagen werden gerne gelesen. Doch in den Zeitungen fristet das Genre ein kümmerliches Dasein. Dabei ist kaum etwas so geeignet, uns vom Zustand der Gesellschaft zu berichten, hinter die Fassade zu schauen und Einblicke fremde Lebenswirklichkeiten zu geben. Wir müssen davon erfahren, um zu verstehen – was uns ausmacht, wie wir werden, was wir sind, und welche Folgen soziale Missstände für die Gesellschaft haben können. 

In der Hauptverhandlung werden die Lebensumstände und die Biografie der Angeklagten erörtert und später vom Gericht im Urteil gewürdigt; es macht ja einen Unterschied, ob jemand aus Gier oder Armut stiehlt. Leider sitzt gerade im Amtsgericht, vor dem die Alltagskriminalität verhandelt wird, nur selten die Presse im Publikum. Ohne die Beobachtung durch den Berichterstatter ist manche Kammer jedoch geneigt, „das dünne Brett zu bohren“, wie es eine Amtsrichterin einmal formulierte, und das Verfahren aus „prozessökonomischen Gründen“ abzukürzen. 

Meist sind es nur die großen Fälle der Landgerichte, die die Presse anziehen, weil sie auch überregional Aufsehen erregen. Bedauerlicherweise erscheint das Gros der Journalisten nur zur Verfahrenseröffnung und Urteilsverkündung. Diese verkürzte Berichterstattung führt zu einer verzerrten Wahrnehmung der Arbeit der Justiz. Für den Leser, dem man nicht die ganze Geschichte erzählt, passen Anklage und Urteil so oft nicht zusammen. 

Sie seien unbeeindruckt von der Anwesenheit der Presse im Saal beteuern die Richter und Staatsanwälte. Doch eine sorgfältige, umfassende Berichterstattung kann Fragen aufwerfen, denen sich zumindest die Staatsanwälte ihrem Dienstherrn im Nachgang stellen müssen. 

Auf das Urteil hat die Presse keinerlei Einfluss, mit einer kleinen Einschränkung: Erfolgt in der Berichterstattung eine mediale Hinrichtung des Angeklagten, kann sich das im Einzelfall durchaus strafmildernd auswirken.

Sind die Folgen der Verdachtsberichterstattung und Vorverurteilung derart gravierend, dass nicht nur der Ruf eines Angeklagten (und manchmal seiner Angehörigen gleich mit) nachhaltig beschädigt ist, wird das Gericht dem Rechnung tragen. Die Strafe der sozialen Ächtung, manchmal bis hin zur Existenzvernichtung kommt dem Urteil oft zuvor. Im Fall eines jungen Mannes, der eine Frau totgefahren hatte, empfing ihn vor dem Gericht am ersten Verhandlungstag eine Menge an Zuschauern, die ihm rieten, sich aufzuhängen. In Fällen, die besonders geeignet sind, die Allgemeinheit zu empören, wie Kindesmissbrauch oder Vergewaltigung bleibt selbst bei einem Freispruch durch tendenziöse Berichterstattung etwas hängen nach dem Motto: irgendetwas wird schon dran gewesen sein. 

Weil dem so ist, haben sich mittlerweile zwei Vorgehensweisen des amerikanischen Strafrechts auch hierzulande im Gerichtssaal etabliert. „Litigation PR“ und das „Opening Statement“. 

„Litigation PR“ ist der Versuch, die Berichterstattung im Sinne des Angeklagten positiv zu beeinflussen. Im Fall eines bekannten Hamburger Unternehmers ging die Verteidigung schon mit Prozessbeginn in die Offensive, verteilte fortlaufend Pressemappen und sandte E-Mails in die Redaktionen. Sein Medienanwalt verstieg sich in den Verhandlungspausen gar zu lächelnd vorgetragenen Drohungen an Pressevertreter. Die beiden Verteidiger richteten sich während des Prozesses hauptsächlich an das Publikum und die Journalisten statt  an Staatsanwaltschaft und Kammer. Nicht alle Journalisten zeigten sich davon unbeeindruckt oder gar abgestoßen. Im Gegenteil: Der Verteidigung gelang es, sich einen „Hofberichterstatter“ zu erschaffen. Zwar saß der Reporter fast nie in der Hauptverhandlung. Aber er veröffentlichte fleißig in einer überregionalen Zeitung und hielt sich in seinen Berichten getreulich daran, was ihm die Verteidigung eingab. 

Von den Berufsrichtern wird allenfalls mit Erstaunen und Kopfschütteln zur Kenntnis genommen, wie und was berichtet wird. Doch die Laienrichter, die Schöffen, kann die Berichterstattung im Laufe eines Verfahrens durchaus verunsichern. Sie haben, wie die Zuhörer, keinen Einblick in Akten und Anklageschrift. Sie sollen sich ihr Urteil allein danach bilden, was in der öffentlichen Hauptverhandlung mündlich erörtert wurde. Aber Laienrichter leben ja nicht abgetrennt von der Welt. Auch sie lesen Zeitung, hören Radio. 

Versuche von Verfahrensbeteiligten, auf die Presse einzuwirken, gibt es zahlreich. Meistens von Seiten der Verteidigung, seltener der Staatsanwaltschaft. Selbstverständlich ist es für Angeklagte und Zeugen höchst unangenehm, wenn intime Details aus ihrem Leben in der Zeitung berichtet werden, selbst wenn, außer in den sehr prominenten Fällen, die vollen Namen nicht genannt werden. Das Umfeld weiß ja, um wen es sich handelt. 

Die zweite, ebenfalls aus Amerika kommende Vorgehensweise ist das „Opening Statement“, mit dem die Verteidigung direkt nach Verlesung der Anklage, noch bevor in die Beweisaufnahme eingetreten wird, ihre Sicht des Geschehens darstellt. Ein Strafverteidiger begründete dieses Vorgehen einmal so: Weil die Schöffen die Anklage jetzt zum ersten Mal gehört hätten und die Presse bei der weiteren Verhandlung vermutlich nicht anwesend sein werde, sehe er sich gezwungen, noch vor der Beweisaufnahme seine Sicht auf die Dinge darzulegen. Man kann das als Versuch werten, die Laienrichter und die Öffentlichkeit zu manipulieren – oder man sieht darin das Bemühen, Waage und Wahrnehmung in Balance zu halten. Viele Journalisten stöhnen dann: sie wollen eine schnelle, griffige Geschichte, die in die wenigen Zeilen reinpasst, die ihnen ihr Blatt einräumt. Gerne wird von vielen der Einfachheit halber der Sicht der Anklagebehörde gefolgt. Ist der Prozess aufsehenerregend genug und eine kontinuierliche Berichterstattung wert, schicken die Redaktionen oft wechselnde Vertreter als (Vormittags-)berichterstatter vorbei, die mit dem Verfahren nicht vertraut sind. Das schadet nicht nur dem Ansehen der Presse. Die „Vierte Gewalt“ kann so auch ihrer Kontrollfunktion nicht gerecht werden. Die „prozessuale Wahrheit“ lässt sich nicht häppchenweise vermitteln. Eine solche Berichterstattung haben weder die Angeklagten noch die Justiz verdient. 

Der Text erschien 2021 im Almanach »Die Vierte Gewalt« der Deutschen Gesellschaft für Qualitätsjournalismus