Vom Reiz der Gerichtsreportage
Bei einer Lesung aus meinen Gerichtsberichten in einer kleineren Stadt saß in der ersten Reihe ein älteres Ehepaar. Während sie hochkonzentriert und sichtlich bewegt zuhörte, blieb sein Gesicht verschlossen, war voller Abwehr. Vielleicht hatte seine Frau ihn mit ehetypischen, so spezifischen und sich doch so ähnelnden ähnelnden Druckmaßnahmen zu der Veranstaltung überredet. Ich las die Geschichte eines Mannes, der seinen Vater erschlagen hatte. Schilderte das Verfahren, das, was die Beweisaufnahme vor Gericht erbracht hatte, das Auftreten des Mannes und das der vielen Zeugen. Nach dem anfänglichen Entsetzen wächst bei den Lesern oft eine Art Verständnis und Mitgefühl, wenn man den Leuten die ganze Geschichte erzählt.
Dieser Ehemann jedoch rief nach der Lesung aus: „Das gibt es bei uns nicht!“ Es hielt ihn kaum länger auf dem Stuhl. Seine Frau warf ihm einen langen Blick zu. Weil sie anschließend ein Buch signiert haben wollte, musste er wohl oder übel noch etwas vor Ort verweilen, was ihn sichtbar Überwindung kostete. Eine andere Dame flüsterte mir zu, während ich schrieb und gleichzeitig das Ehepaar beobachtete, „Wegen des Herrn da vorhin: Im Nachbarort hat die Polizei vor zwei Wochen zwei Babyleichen in einer Tiefkühltruhe entdeckt. So viel zu ‚das gibt es bei uns nicht‘.“ Ich lächelte ihr freundlich zu und antwortete, man muss nur sehen wollen. Sie nickte.
Was einen Menschen ausmacht, wird sichtbar, wenn er in Extremsituationen kommt. „Jeder Mensch ist ein Abgrund: es schwindelt einem, wenn man hinabsieht“, heißt es in Büchners „Woyzeck“, und das ist natürlich wahr. Gut und schlecht stecken in jedem von uns. In die Abgründe zu schauen, hinter die Fassade zu blicken, fasziniert uns, weil wir so verstehen, was uns ausmacht.
Gerichtsreportagen wurden immer gerne gelesen, weil wir verstehen wollen, wie es dazu kommen kann, dass jemand die zivilisatorische Grenze überschreitet. Weil wir, wenn wir wir ehrlich zu uns sind, wissen, dass der Firnis oft dünn ist. Jeder kennt Momente des Zorns, unbändiger Wut, hat Augenblicke erlebt, in denen uns eine Banalität überkochen lässt, – der sprichwörtliche letzte Tropfen – und der Verstand aussetzt. Wir wissen um die Macht der Gier nach Geld und Liebe, nach Berührung und Anerkennung. Romantisch weichgezeichnet, die Sehnsucht. Wir sehnen uns nach Harmonie, nach einem Platz, an dem wir zu Hause sind, kommen mitunter mit schwerem Gepäck dort an und laden ihn mit all unseren Erwartungen auf. Die meisten Menschen sind zu allerlei Kompromissen bereit, nur um nicht allein zu sein – oder finanziell abgesichert. Was passiert, wenn unsere Hoffnungen, unser Vertrauen missbraucht wird? Die Liebe nicht erwidert wird oder zumindest nicht so, wie wir es uns wünschen? Unser Rückzugsort sich in einen Hochspannungssektor verwandelt?
Meistens geht die Sache ja irgendwie gut – zumindest in strafrechtlicher Hinsicht. Gerade wenn wir beobachten, wie das Minenfeld von Ehe und Familie, das Heim, sich in ein tatsächliches Schlachtfeld verwandelt, erfasst uns ein Schaudern. Wir lesen über Beziehungstaten wie von Stellvertreterkriegen, sind Davongekommene. Eine Art Katharsis, die es uns natürlich auch ermöglicht, nicht an die Leichen im eigenen Keller zu denken. Wie der ältere Herr bei meiner Lesung können wir uns kopfschüttelnd abwenden und uns als die besseren Menschen fühlen: Das würde ich nie tun!
Die Gerichtsreportage erzählt von der Fragilität unserer Existenz, von seiner Tragik und Komik. Sie berührt uns anders als ein Krimi, weil die Geschichten wahr sind, sich nebenan abspielen. Jeder kann Opfer werden – oder Täter. Oft hat man einfach nur Glück. Der Situationen, in denen wir Schuld auf uns laden, sind unzählige. Der Schritt auf die Anklagebank ist oft nur ein kleiner.
„Wann Krieg beginnt, das kann man wissen. Aber wann beginnt der Vorkrieg“, schreibt Christa Wolf in ihrer Erzählung „Kassandra“.
Im Gerichtsprozess wird die Kette der Ereignisse, der Vorkrieg, für uns aufgerollt, Stein um Stein umgedreht, um zu verstehen, wie es zu einer Tat kam. Fremde Leben werden vor uns ausgebreitet, ein Blick in Parallelwelten. Vieles verstehen wir nicht, uns fehlt die Phantasie – oder wir halten sie in Schach. Doch bitten wir an Jom Kippur, dem Tag der Sühne, nicht nur um Vergebung für all die schlechte Dinge, die wir taten, sondern auch für die, die wir nur dachten. Versuchen, ein wenig die Rumpelkammer aufzuräumen – um anschließend im neuen Jahr genauso weiterzumachen.
„Vorgestalten“, nennen forensische Psychiater die finsteren Gedanken, wenn gekränkte Eitelkeit, fortlaufende Verletzungen, wie auch immer geartet, Rache wachsen lassen. Zu Straftaten führt nicht nur der Tunnelblick des Täters mit seiner individuellen Beschaffenheit und seiner Biografie, sein ganzes Umfeld spielt eine Rolle. Deshalb werden in der Beweisaufnahme vor Gericht all diese Dinge so genau wie möglich betrachtet. Es geht nicht um „Freifahrtscheine“, wie oft verächtlich über die Justiz gesagt und gedacht wird. Die Schuld eines Menschen wiegt individuell. Das versteht ja auch jeder. Zu stehlen aus Not ist etwas anderes, als zu stehlen aus Geiz. Ein Aufwachsen mit Misshandlungen anders zu bewerten, als ein wohlbehütetes. Die Hintergründe zu erfahren, nicht nur von Tat und Urteil in der Zeitung zu lesen, lehrt uns viel über uns selbst und unser Miteinander. Die Abgründe sind ja das Interessante und Spannende. Ein bisschen Voyeurismus und wohliger Schauer ist natürlich auch dabei. Nicht zuletzt sind die Geschichten der Anderen doch überaus unterhaltsami.
Plotkes für den Marktplatz (und die Synagoge).
Ein Leitartikel für die Jüdische Allgemeine zur Frankfurter Buchmesse 2019
https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/der-reiz-des-verbrechens/