
Vom Etikett „Edelkolumnistin“ sollte man sich bei Raquel Erdtmann nicht abschrecken lassen. „Und ich würde es wieder tun“, ihre Gerichtsreportagen, die zuerst als Beiträge für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung erschienen, sind angenehm unparfümiert – anders als bei Schirach, dessen Texte gern mit einem Spritzer „Eau Starker Max“ kommen. Raquel Erdtmann tut nicht allwissend, sie schreibt aus der Perspektive einer Prozessbeobachterin, hat den Blick einer Schauspielerin und Installationskünstlerin (was sie beides ist) für das zur Aufführung kommende Drama und für manch erhellende Verästelung. Manche Prozesse gleichen einer Oper, manche handeln von kleinen Würstchen, andere machen ziemlich sprach- oder ratlos. Nicht immer gelingt die Sache mit der Gerechtigkeit vor Gericht, die vollständige Klärung der Motive oder eine eineindeutigen Schuldzuweisung. Die Delikte, deren juristischer Bewältigung die Autorin beiwohnt, sind klein und groß, komisch und entsetzlich oder einfach seltsam. Da gibt es großangelegten, schockierenden Betrug mit nicht koscherem Fleisch, einen Rentner, der seinen Mercedes als Tatwaffe einsetzt, einen Heiratsschwindler wie aus dem Groschenroman, das Töten von Wirbeltieren ohne vernünftigen Grund (26 Schlangen, 27 überleben es), einen 82 Jahre alten Vergewaltiger – in der Ehe, einen Täter, der über sich selbst entsetzt ist, Beziehungen mit gewaltsamem Ende, Liebesgeschichten mit ungutem Ausgang, einen IS-Kämpfer und ein deutsches Street-Girl, einen Schlepper-Prozess oder manch atemberaubende Herzlosigkeit, auch sich selbst gegenüber.
CULTurMag, 1.Mai 2019
Rezension von Christian Beisenherz, WDR2